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Industrie 4.0 in der Luftfahrt
Intelligente Fabrikation in der Luftfahrtindustrie
05.2016 | Autorin: Silke Hansen | 7 Min. Lesezeit
Autorin:
Silke Hansen
schreibt als freie Journalistin für den AEROREPORT. Seit über zehn Jahren berichtet sie aus der Welt der Luftfahrt, ihre Themenschwerpunkte sind Technik, Innovation und Markt. Ein weiteres Spezialgebiet der Autorin ist das Corporate Responsibility Reporting.
Das Thema ist in aller Munde, überall, in Deutschland, in den USA, sogar in China. Auch die Luftfahrtindustrie steht vor einem Wandel. Hierzulande nennt sich der Trend Industrie 4.0, im englischsprachigen Raum wird er auch als Internet of Things heiß diskutiert. Was steckt dahinter?
„Eine Definition von Industrie 4.0 ist schwierig. Der Begriff wird sehr breit und oft sehr unkonkret benutzt. Plötzlich ist alles 4.0, die Arbeit, die Logistik“, erklärt Tobias Strölin vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. Er spricht lieber von einer „Digitalisierung der Wertschöpfung“ und rät: „Jedes Unternehmen muss Industrie 4.0 für sich selbst definieren.“ Im privaten Leben bereits allgegenwärtig, hält das Internet Einzug in die Fertigung. Denn eine zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verändert auch die Produktion und Arbeitsweise. In Zukunft, so die Experten, vernetzen sich Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte in Echtzeit miteinander. Die Produktion organisiert sich weitestgehend selbst – flexibel, effizient und den individuellen Kundenwünschen entsprechend. Es entsteht die intelligente Fabrik – das Paradebeispiel für Industrie 4.0.
Die Voraussetzungen dafür haben modernste Informationstechnologien und neue Möglichkeiten der Datenverarbeitung geschaffen: mehr Speicherkapazität, höhere Geschwindigkeit, kleinere Baugrößen, bessere Sensorik. Enorme Fortschritte in Sachen künstlicher Intelligenz haben etwa dazu geführt, dass Leichtbauroboter heutzutage zu einem vergleichsweise günstigen Preis am Markt zu haben sind.
Technologische Grundlage für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 sind so genannte cyber-physische Systeme, in denen Produkte und Produktionsmittel kommunikationsfähig und flexibel vernetzbar sind. „Das Bauteil bekommt Füße“, nennt es Strölin. Es kann sich mittels RFID-Technologie, die über elektromagnetische Wellen arbeitet, selbst identifizieren, weiß wie es bearbeitet werden soll und nimmt mit der Produktionsanlage Kontakt auf. Die entscheidet wiederum eigenständig, was wann zu tun ist und in welcher Reihenfolge. Nach Dampfmaschine, Fließband, Elektronik und IT wäre das die neue, vierte Revolution, daher der Name „Industrie 4.0“. Eine Vision?
Die Luftfahrt hat ihre eigenen Gesetze
„In der Luftfahrt stehen wir erst am Anfang von Industrie 4.0. Am MTU-Standort München betreiben wir allerdings bereits seit einigen Jahren zwei teilautomatisierte Fertigungslinien, und mit der weitgehend selbststeuernden, digitalisierten neuen Bliskproduktion gehen wir noch einen Schritt weiter“, sagt Richard Maier, Leiter Produktionsentwicklung des Antriebsherstellers MTU Aero Engines. Andere Branchen wie die Automobilindustrie sind schon weiter. Insgesamt steckt die Digitalisierung der industriellen Produktion allerdings noch in den Kinderschuhen; neben vereinzelten Anwendungen haben erste Demonstratoren, so genannte Demo-Labs, an Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten ihre Pforten geöffnet. „In fünf Jahren erwarten wir am Ende der Erprobungsphase bereits erste Wettbewerbsvorteile, in zehn bis zwanzig Jahren die ersten Smart Factories“, so die Einschätzung Strölins.
Die Fertigung in der Luftfahrt folgt allerdings eigenen Gesetzen, das Konzept von intelligenten Fabriken ist nur bedingt übertragbar. Zum Vergleich: Airbus produziert 2,5 Flugzeuge am Tag – ein Automobilhersteller schafft mehrere Tausend Autos. „Wir fertigen zwar in Serie, aber in geringen Mengen. Das ist alles andere als eine Massenproduktion“, so Maier. Zudem steige der technologische Anspruch an einzelne Bauteile kontinuierlich, daher müssten immer mehr Prozesse – möglichst integriert – durchgeführt werden. Das Produkt wird komplexer, seine Herstellbarkeit schwieriger. Wichtig seien in erster Linie stabile Prozesse. In der Luftfahrttechnik entsteht immer noch viel in Einzelfertigung. Maier: „Wir können nicht um jeden Preis automatisieren.“ Aber eine Automatisierung lohnt sich im Triebwerksbau angesichts neuer Bauteilfamilien immer mehr. Dabei wird über ein Familienkonzept ein Kerntriebwerk für mehrere Anwendungen skaliert. Bestes Beispiel: der neue Getriebefan, die PW1000G-PurePower®-Antriebsfamilie, für fünf Flugzeughersteller und ihre Modellreihen. Das bringt eine große Vergleichbarkeit der Teile und damit ein hohes Volumen mit sich. Die MTU produziert für die PW1000G-Familie Verdichter-Blisks, eine Spezialität des Unternehmens. Die Hightech-Bauteile, integral gefertigte Verdichterstufen, werden in einer neu errichteten Fertigungshalle mit einem hohen Automatisierungsgrad und intelligentem Steuerungssystem produziert – die weltweit modernste Fertigung für Triebwerksteile dieser Art.
Kollege RoboterNoch ungewöhnlich in der Luftfahrtindustrie: Airbus testet in Entwicklungslabors Roboter in der Fertigung.
Automatisierte Bliskproduktion
Die Blisks für die Pratt&Whitney GTF™ Triebwerksfamilie werden in einer neu errichteten Fertigungshalle mit einem hohen Automatisierungsgrad produziert. Zur Interaktion ...
Digitalisierung als Beschleuniger
„Für die Luftfahrt ist großes Potenzial vorhanden“, bescheinigt Maier der Industrie 4.0. Die Branche muss angesichts des Kostendrucks vor allem in Hochlohnländern wettbewerbsfähig bleiben. Tom Enders, CEO der Airbus-Gruppe mit Produktionsstandorten in Deutschland und Frankreich, fordert „die Möglichkeiten der digitalen Revolution zu nutzen. Dazu gehört, dass die Konzeption, Entwicklung und Herstellung unserer Produkte wesentlich effizienter und schneller wird.“ Der europäische Flugzeugbauer arbeitet an einer Fabrik der Zukunft, in der neue Wege der Fertigung getestet und schrittweise integriert werden: virtuelle Entwicklungswelten für neue Flugzeuge, fortschrittliche digitale Technologien im Shopfloor, eine neue Robotergeneration, die in der Linie zusammen mit Menschen arbeitet, sowie die additive Fertigung. Airbus zieht das Tempo an. Die Automatisierung soll in der Fabrik der Zukunft vor allem in der Montage zunehmen, intelligente Roboter zum Beispiel sollen sich wiederholende und schwere Tätigkeiten erledigen. 2015 hat das Unternehmen 635 Flugzeuge ausgeliefert – ein neuer Rekord. Die Auftragsbücher sind prall gefüllt, die Produktionsraten sollen in Zukunft noch weiter nach oben klettern – für den Verkaufsschlager A320neo auf bis zu 60 Flugzeuge monatlich.
„Durch Industrie 4.0 wird die Basis für einen systematischen Lernprozess erzeugt. Es geht darum, aus Daten zu lernen und kontinuierlich Prozesse zu verbessern. Industrie 4.0 wird dabei helfen, komplexe Prozesse beherrschbarer zu machen. Das gilt auch für die Luftfahrt“, sagt Dr.-Ing. Christina Reuter vom Lehrstuhl für Produktionssystematik an der RWTH Aachen. Einer europaweiten Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie zufolge bringt die Digitalisierung der Luft- und Raumfahrttechnik ab 2025 voraussichtlich ein zusätzliches Jahres-Plus von zehn Milliarden Euro in der Bruttowertschöpfung. Die Branche werde den digitalen Wandel zeitversetzt in einer dritten Welle erleben. In der ersten und zweiten Welle stecken demnach Automobilindustrie und Logistik.
Fertig und weiter Bearbeitete Bauteile werden automatisch aus der Maschine geholt, die sofort bereit ist für das nächste Werkstück.
Interview mit Tobias Strölin, Fraunhofer Institut
Herr Strölin vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation nimmt Stellung zu dem Thema: Halten Tablets Einzug in die Fertigung?
Für die Luftfahrttechnik sehen die Experten dabei nicht so sehr technische, sondern vor allem regulative Hürden. Mehr Vernetzung bedeute ein höheres Cyberrisiko. Und dafür ist die Luft- und Raumfahrtbranche mit ihren sehr hohen Sicherheitsvorschriften besonders empfindlich. Die IT-Sicherheit ist jedoch für alle Industrie 4.0-Anwendungen die große Herausforderung. Selbstfahrende Autos – technisch längst möglich – reduzieren zwar das Unfallrisiko, dafür entstehen neue Risiken bei der Datensicherheit. „Wir müssen die Daten zuverlässig vor unqualifizierten
oder unerlaubten Zugriffen sichern“, betont auch Maier.
Noch sind nicht alle Hürden genommen. Aber: „In zehn Jahren werden wir gar nicht mehr darüber reden, dann ist die Digitalisierung da“, ist sich Strölin sicher. Und die soll so einiges abwerfen: McKinsey hat errechnet, dass der größte wirtschaftliche Mehrwert einer intelligenten Vernetzung in einem Internet der Dinge für Fabriken bestehe: weltweit bis zu 3,7 Billionen Dollar im Jahr 2025.